Prof. Dr. Martin Carrier in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Ulrich Krohs, Jun. Prof. Dr. Maria Kronfeldner, Dr. Cornelis Menke, Dr. Niels C. Taubert und Prof. Dr. Torsten Wilholt Abteilung Philosophie und Institut für Wissenschaft- und Technikforschung (IWT) der Universität Bielefeld.
Die drei Hauptachsen des gegenwärtigen Campus bilden die nördliche und die südliche Universitätsstraße sowie die Morgenbreede. Die südliche Universitätsstraße bleibt als Universitätsstraße erhalten, ebenso wie der vordere Teil der Morgenbreede (mit den Studentenwohnheimen als Anliegern). Die nördliche Universitätsstraße soll die Erfahrung werden, was zugleich ein Erkenntnisbegriff und eine Aktivitätsbeschreibung ist, nämlich die Zufahrt zur Universität andeutet. Die hintere Morgenbreede soll Konsequenz heißen, was erneut einen Ortsbegriff mit einem Erkenntnisbegriff verknüpft. „Consequi“ ist nämlich im lateinischen Wortsinn nicht allein „sich ergeben aus“, sondern auch „folgen“ und „nachfolgen“. Die Benennungen der nördlichen und südlichen Begrenzung des alten Campus bringen damit auch Erkenntniswege zum Ausdruck: In der Wissenschaft spürt man Konsequenzen von Erfahrungen nach, und zugleich überprüft man die Konsequenzen eines neuen Gedankens anhand der Erfahrung.
Die Verbindung zwischen der Erfahrung und der Universitätsstraße wird an drei Stellen hergestellt. Für die Zufahrt zum Ersatzneubau der Universität bietet sich Vermittlung an. Vermittlungen spielen in der Wissenschaft an vielen Stellen eine Rolle. Zum Beispiel bedarf es oft vermittelnder Gedanken, um die Konsequenzen von Erfahrungen auszuloten, ebenso benötigt auch der Übergang von der Theorie zur Praxis nicht selten eine Vermittlung. Der Übergang von der Stadtbahnhaltestelle zum Haupteingang der Universität soll Bildungsgang heißen. Die am weitesten östlich gelegene Verbindung soll Spannungsbogen genannt werden. Die leicht gebogene Form der Straße versinnbildlicht die gespannte Kraft eines Bogens, dessen Energie sich in hohe Leistungen umwandelt und dadurch zugleich das Wirkungsvermögen von Hochschulen veranschaulicht.
Der Kreisverkehr, in den der Spannungsbogen mündet, soll die Bezeichnung Hermeneutischer Zirkel tragen. Die Hermeneutik ist die Kunstlehre der Textinterpretation, und der genannte Zirkel besteht darin, dass sich das Gesamtverständnis eines Textes und das Verständnis der Einzelheiten wechselseitig bedingen und voneinander abhängen. Das Zirkuläre dieses Zusammenhangs findet sich augenfällig in einem Kreisverkehr wieder.
Für den Weg um die Universität herum – also an deren Rand entlang – ist Rand- bedingung eine geeignete Benennung. Randbedingungen spielen als vorgegebene Rahmenumstände zum Beispiel bei der Lösung von Differentialgleichungen eine wesentliche Rolle. Die Querverbindung am westlichen Rand führt an den Sportplätzen vorbei und soll entsprechend Dynamik genannt werden. Die Dynamik ist zunächst ein Wissenschaftsbegriff und bezeichnet die Lehre von den Kräften. Darüber hinaus trifft die Bezeichnung aber auch auf Forschungsvorhaben, Fakultäten oder gar ganze Universitäten zu. Die „Dynamik“ trifft auf die Sequenz, die den Zugang zum CeBiTec (Center for Biotechnology) bildet. Zunächst ist „sequi“ von der lateinischen Wurzel wieder ein Ortsbegriff, nämlich „folgen“, dann aber kommt durch die Bezeichnung auch zur Geltung, dass am CeBiTec Genome entziffert, also sequenziert werden. Den westlichen Abschluss des alten Campus bildet die Definition, in der ein Doppelsinn von Begriffsbestimmung und Grenzziehung (von lat. finis) zum Ausdruck kommt.
Der Platz am östlichen Rand des Universitätshauptgebäudes wird begrenzt vom diesem, dem CITEC und dem Oberstufenkolleg; von ihm gehen Wege aus zum Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) und zum Internationalen Begegnungszentrum (IBZ). Für diesen Platz, der im Schnittpunkt einer Vielzahl von Verbindungen liegt, eignet sich der Name Ausstrahlung. Die Wege, die von dort sternförmig ausgehen, verkörpern die engen Austauschbeziehungen insbesondere zwischen der Universität und den angegliederten Schulen. An die „Ausstrahlung“ schließt sich eine herrliche Allee mit Sitzbänken an, die um das CITEC herumführt und die die Bezeichnung Gedankengang tragen soll. Diese Bezeichnung besitzt einen doppelten Bezug auf Bewegung und Denken, und zumindest im Sommer liefert dieser kontemplative Ort einen exzellenten Rahmen für zündende Ideen und stichhaltige Überlegungen. Auf der anderen Seite des Oberstufenkollegs und der Laborschule soll die Aufklärung verlaufen. Die Aufklärung als Epoche der Geistesgeschichte rückte die Forderung nach vernünftiger Begründbarkeit gegenüber den Ansprüchen der Tradition in den Vordergrund und markiert darüber hinaus die Ausbildung unserer westlichen Gesellschaftsordnung (Demokratie, Menschenrechte, Gewaltenteilung, Rechtsstaat). Ein Bezug auf diese Werte ist im Zusammenhang mit den mit der Universität verbundenen Schulen passend. Die „Aufklärung“ führt zu einem Tunnel unter der Voltmannstraße, für den der Name Durchbruch vorgesehen ist. Damit ist wieder der Doppelsinn eines wörtlichen Verständnisses und einer figurativen Interpretation im Sinne von wissenschaftlichen Durchbrüchen verbunden.
Geht man von der „Ausstrahlung“ am Universitätshauptgebäude entlang in Richtung Universitätsstraße und biegt dann links am Universitätshauptgebäude entlang ein, so öffnet sich links eine Gebäudenische, die Forschungslücke genannt werden soll. Die Lücke in der baulichen Gestaltung symbolisiert die Lücke im System des Wissens. Dabei handelt es sich keineswegs um eine geringschätzige Bezeichnung. Vielmehr ist die Identifikation einer Forschungslücke ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu einem erfolgreichen Forschungsantrag. Das Auffinden von Forschungslücken ist wesentlicher Teil der Forschungspraxis.
Von der „Ausstrahlung“ führt zunächst der weiter rechts gelegene Fußweg in Richtung des IBZ. Dieser soll den Namen Heuristik tragen. Der Begriff leitet sich vom griechischen „heurisko“ ab und bezeichnet Strategien zum Auffinden von Lösungen. Da das Finden zugleich auch eine örtliche Bedeutung hat, entsteht ein weiteres Mal die Koppelung eines örtlichen Begriffs und eines Erkenntnisbegriffs. Der von der „Heuristik“ abzweigende Weg zur Kita soll „Entdeckung“ genannt werden. Zunächst handelt es sich dabei um einen Erkenntnisbegriff, zugleich spielt er aber auf die Entdeckung der Welt durch die Kinder an – in Aufnahme eines seit Längerem verfolgten Forschungsansatzes, der Parallelen zwischen dem Forschungsverhalten von Kindern und von Wissenschaftlern herausarbeitet und entsprechend Kinder als kleine Wissenschaftler betrachtet.
Darüber hinaus führt von der „Ausstrahlung“ der weiter links gelegene Fußweg zur Werther Straße und weiter zum ZiF. Hier denken wir an die Benennung Analyse im unteren Teil bis zur Morgenbreede (die westlich von hier zur Konsequenz wird) und Synthese im oberen Teil. Es handelt sich dabei um klassische Muster des Erkenntniszugangs, nämlich um die Zerlegung eines Forschungsgegenstands in seine Teile und deren anschließende Wiederzusammensetzung. Schon der spätmittelalterliche Aristotelismus bemisst den Erfolg eines Erkenntnisbemühens danach, ob die gedankliche Zergliederung eines Erkenntnisobjekts durch die anschließende Verbindung der Teile zum ursprünglichen Objekt gelingt. Analysen und Synthesen sind also keinesfalls auf die Chemie beschränkt, sondern stellen methodische Elemente vieler Disziplinen dar. Beim weiteren Aufstieg zum ZiF schließt sich daran die Vielfalt der Methoden an (der Wellenberg), die natürlich für Analysen und Synthesen aller Art sehr wichtig ist. Das griechische „methodos“ (das Folgen, Nachgehen) setzt sich aus „meta“ (nach) und „hodos“ (der Weg, die Straße) zusammen. Dadurch entsteht erneut eine Doppelung eines örtlichen Begriffs mit einem Erkenntnisbegriff. Die Vielfalt der Methoden entspricht dabei dem Auftrag und dem Selbstverständnis des ZiF. Der Platz vor dem ZiF soll Einsicht heißen, zum einen weil methodische Analyse und Synthese zur Einsicht führt, auch und gerade in interdisziplinären Zusammenhängen, zum anderen weil der Platz einen wunderschönen Ausblick auf Universität und Stadt eröffnet.
Die Finnbahn soll zum Natürlichen Ort werden. In der Aristotelischen Physik ist der natürliche Ort derjenige Ort, wohin ein Körper in natürlicher Bewegung, also seiner Natur nach strebt und wo er zur Ruhe kommt. Das spielt auf der einen Seite darauf an, dass es sich an diesem Ort in der Natur gut verweilen lässt. Auf der anderen Seite wird eine gewisse Spannung dadurch erzeugt, dass die Finnbahn ein Ort der Bewegung ist, nicht der Ruhe. Hier ist in der begleitenden Erläuterung darauf zu verweisen, dass in der spätantiken Kosmologie die in anhaltend gleichförmiger Bewegung durchlaufenen kreisförmigen Planetenbahnen ebenfalls als natürliche Bewegung vorgestellt wurde. Der Weg, der um die Finnbahn herum führt, bildet in seinem nordöstlichen Teil den Zugang zur Kita. Hierfür bietet sich entsprechend Entwicklungsgang an. Diese Bezeichnung verbindet das Ambulatorische, das einen Weg im Grünen charakterisiert, mit dem Thema des kindlichen Wachstums. Dadurch trifft die Entdeckung auf den „Entwicklungsgang“, so dass im Umkreis der Kita ein kindgerechtes Ensemble entsteht.
Der westlich an den Ersatzneubau der Universität anschließende Platz wird das Soziale Feld, was darauf anspielt, dass im Ersatzneubau auch die Fakultät für Soziologie unterkommt. Zugleich wird auf diesem direkt an der Mensa gelegenen Platz mit Außenterrasse eine Gelegenheit zur Begegnung geschaffen. Von dort bewegt man sich zu Fuß auf dem Lauf der Dinge zum Campus Nord. Durch diese Benennung wird zugleich eine Verbindung zur Abteilung Geschichte hergestellt, die im Ersatzneubau ihren neuen Ort findet. Nördlich der „Erfahrung“ läuft man weiter zu Fuß auf der Iteration zum Campus Nord. Die „Iteration“ ergibt sich zunächst aus dem lateinischen „iter“ für „Weg“, bezeichnet dann aber in der Wissenschaft die mehrfache Wiederholung eines Prozesses. In beiden Fällen sind örtliche Bedeutung und Erkenntnissinn miteinander verbunden. Die Fahrstraße, die Campus Nord und Campus Süd miteinander verbindet ist die Assoziation. Diese setzt sich auch auf der anderen Seite des Campus Nord fort und bringt durch diese Bezeichnung die Verbindung von Universität und Stadt zum Ausdruck. Nördlich der „Assoziation“ an der künftigen Stadtbahnhaltestelle liegt der Transfer. Dabei geht es dem Wortsinn nach um Übertragungen, und diese spielen in der Wissenschaft an vielen Stellen eine Rolle. Zum Beispiel bei der Übertragung von der Theorie in die Praxis. Aber in einem sehr konkreten Sinn dient auch die Stadtbahn dem Transfer.
Die „Assoziation“ trifft am westlichen Ende des Campus Nord auf einen Platz, der die Bezeichnung Interaktion tragen soll (und zur Adresse der FH wird). Zunächst handelt es sich dabei um einen Wissenschaftsbegriff: in vielen Erfahrungsbereichen spielen Interaktionen oder Wechselwirkungen eine zentrale Rolle, etwa bei der Wechselwirkung zwischen Ladungen in der Physik oder der Wechselwirkung zwischen Menschen in der Sozialpsychologie. Zugleich drückt „Interaktion“ aber auch eine Beziehung zwischen Lehr- und Forschungseinrichtungen auf der einen Seite und Institutionen aus Wirtschaft und Gesellschaft auf der anderen aus. Der Platz neben dem Forschungsbau Interaktive Intelligente Systeme (und die Adresse des CITEC) wird die Inspiration. Dadurch wird zum einen ausgedrückt, dass die Forschung zur künstlichen Intelligenz bestrebt ist, dem trägen Metall Geist einzuhauchen (von lat. Inspirare). Zum anderen wird ebenfalls angesprochen, dass die Wissenschaftler an diesem Ort inspirierte Forschung betreiben und kreative Neuerungen ans Werk setzen. Der Pfad der Erkenntnis bezeichnet den idyllischen Weg rund um die Fachhochschule. In beiden Fällen sind örtliche Bedeutung und Erkenntnissinn miteinander verbunden.
Originelle Straßennamen mit einprägsamen Begriffen aus der Welt der Wissenschaft werden dem Campus Bielefeld einen Charakter verleihen, der deutschlandweit einmalig ist. Im Film erläutert...